Vagdavercustis, die Göttin aller Krieger
„Sag mal, Nina, verstehe ich das richtig, dass hier wieder etwas Römisches im Boden liegt, das man nicht sehen kann?“, fragt Nicki Nuss mit einem schelmischen Blick. „Stimmt genau“, entgegnet Nina. „Hier, wo die Straße ‚Im Dahl‘ einen Knick macht, haben wir einen guten Blick auf die Stelle, an der vor fast 2000 Jahren der Tempel der Kriegsgöttin Vagdavercustis stand.“
„Wagawas?“, stottert Klaus. „Vagdavercustis“, wiederholt Nina. „Das war eine germanische Kriegsgöttin. Auf der leichten Anhöhe dort drüben stand vom 1. bis zum 4. Jahrhundert nach Christus die bislang einzige bekannte Tempelanlage, die ihr geweiht war. Das Heiligtum war ringsum von einer Mauer umgeben. Diese Mauer umschloss den heiligen Bezirk, den temenos. In der Mitte des Heiligtums stand ein sogenannter Umgangstempel“, macht es Nina wieder einmal spannend.
„Umgangstempel, das klingt ein wenig komisch – ist ein Umgangstempel etwas Besonderes?“, fragt Nicki. „Oh ja“, antwortet Nina. „Solche Tempel kennt man nur aus den gallischen und germanischen Provinzen des Römischen Reiches. Die heißen so, weil rund um die cella, also um den Raum mit der Götterstatue, den nur die Priester betreten durften, ein überdachter Säulengang herumlief.“
„Gab es im heiligen Bezirk noch mehr Gebäude?“, will Klaus wissen. „Ja, die gab es“, bekräftigt Nina. „Direkt neben dem Tempel stand ein rechteckiges Gebäude, das der Kultgemeinde vielleicht als Versammlungsraum diente. Auf der Rückseite der ganzen Anlage stand ein Wohnhaus, das wahrscheinlich für die Priester oder die Pilger da war. Das Haus hatte sogar eine Fußbodenheizung!“
„Und wer hat zu dieser Göttin mit warmen Füßen gebetet?“, interessiert sich jetzt Nicki Nuss. Nina erzählt: „Das waren wohl vor allem Kavalleristen aus dem benachbarten Kastell Burginatium und Legionäre der legio XXX Ulpia victrix aus Vetera castra in Xanten. Bei ihren Ausgrabungen haben Archäologen und Archäologinnen Bruchstücke von Weihesteinen mit entsprechenden Inschriften gefunden. Als Opfergaben weihten die Soldaten vor allem Waffen und militärische Ausrüstungsgegenstände.“
„Wieso haben eigentlich römische Soldaten einer germanischen Göttin geopfert?“, fragt Nicki weiter. Auch hier weiß Nina die Antwort: „Na ja, die Römer hatten viele Götter. Die wichtigsten waren Jupiter, der Wettergott und Blitzeschleuderer, seine Frau Juno, die die Familie und das heimische Herdfeuer beschützte, und Minerva, die Göttin der Weisheit und der Strategie des Krieges.“
„Und was war mit dem Kaiser?“, fragt Klaus nach. „Stimmt, auch für den Kaiser gab es einen Kult“, bestätigt Nina. „Die Römer verehrten sozusagen seine besondere Ausstrahlung. Verstorbene Kaiser konnten außerdem auf Beschluss des Senats vergöttlicht werden. Die Verehrung des Kaisers und der Staatsgötter war so etwas wie ein Bindeglied für die römische Gesellschaft.“
„Was war denn dann mit den vielen anderen Göttern?“, will jetzt Nicki Nuss wissen. „Oh, da konnte jeder Mensch im Römischen Reich glauben, was er oder sie wollte“, erklärt Nina. „Hauptsache, man opferte daneben auch den Staatsgöttern und dem Kaiser. Viele Menschen verehrten weiter die Götter ihrer Vorfahren.
Und wenn die fremden Götter etwas versprachen, was sich auch Römerinnen und Römer erhofften, dann opferten sie ganz einfach auch für diese Gottheiten – und von der Kriegsgöttin Vagdavercustis erhofften sich natürlich die Soldaten Beistand in der Schlacht.“
„Gab es denn sonst noch Götter, die besonders von römischen Soldaten verehrt wurden?“, fragt Nicki sichtlich neugierig. „Die gab es tatsächlich“, bestätigt Nina. „Da war natürlich der römische Gott Mars, der Kriegsgott. Auch Victoria, die Siegesgöttin, genoss ganz besondere Verehrung. Der Halbgott Herkules wurde um Kraft gebeten und natürlich versuchten die Soldaten auch, sich mit Pluto, dem Herrn des Totenreiches, gut zu stellen. Römische Soldaten opferten auch verschiedenen Schutzgeistern, den Genien. So hatte jedes Kastell und jeder Exerzierplatz seinen eigenen
Genius. Auch die Feldzeichen, die jeder Einheit bei ihrer Gründung verliehen wurden, galten als heilig. Diese Kulte stärkten enorm das Gefühl, zu einer gemeinsamen Einheit zu gehören“, weiß Nina.
„Gab es denn auch Tempel in den Kastellen?“, fragt diesmal Klaus. „Richtige Tempel gab es nicht“, erklärt Nina. „In den principia, dem Stabsgebäude, gab es aber immer einen speziellen Raum, in dem die Feldzeichen aufbewahrt wurden, das aedes, das Fahnenheiligtum. Hier standen neben den Feldzeichen auch verschiedene Götterbilder oder Geniusfiguren. Vor dem Fahnenheiligtum lagen die basilica, die große Querhalle und der Innenhof. Hier
standen in der Regel die Ehrenstatuen der Kaiser. Aber auch außerhalb der Kastelle, zum Beispiel in den Kastelldörfern, lagen militärische Kultplätze. Diese wurden wohl zumindest zum Teil von Soldaten und der Zivilbevölkerung gemeinsam genutzt.“
„So viele Götter“, meint Klaus. Nina entgegnet: „Ja, und es kamen sogar noch welche dazu. Im 2. Jahrhundert breitete sich aus dem Osten eine Religion aus, die genau den Vorstellungen der Soldaten entsprach: die Verehrung des heldenhaften Kämpfers Mithras, des Herrn des Lichts, der, so glaubten seine Anhänger, durch das Töten eines Stiers für das Werden und Vergehen des Lebens sorgt. An vielen Legionsstandorten errichteten die Menschen die unterirdischen Heiligtümer des Mithras. Zur gleichen Zeit verbreitete sich auch langsam der Glaube an Jesus Christus. Diese Religion löste am Ende des 4. Jahrhunderts die vielen römischen Götterkulte ab.“
„Und da wurde die Wagawas nicht mehr beachtet?“, fragt Klaus mit einem gespielt traurigen Gesicht. „Sie hieß Vagdavercustis“, korrigiert ihn Nina und kann sich ein Lachen nicht verkneifen.